Zwei Frauen an einem Grab, das von Blumen überhäuft ist: Das ist eines der Bilder, die nach der Beisetzung des russischen Oppositionellen Alexej Nawalny Anfang März zu sehen waren.
Alexej Nawalnys Mutter musste die Mächtigen darum bitten, dass sie ihren toten Sohn noch einmal sehen konnte. Und darum, dass ihr sein Leichnam zur Beisetzung übergeben wurde und nicht etwa in einem namenlosen Grab irgendwo in Sibirien verschwand. Das Bild zeigt sie zusammen mit der Schwiegermutter ihres Sohnes. Für Alexej Nawalnys Frau und seine Kinder war es zu gefährlich, nach Russland einzureisen. Sie konnten bei der Beerdigung nicht dabei sein. Ein Karfreitag, in diesem Jahr schon am Anfang der Passionszeit.
Manche sagen: Dass einer für andere stirbt, das gibt es doch nicht mehr. Nur im Kino gibt es das noch. Und in der Kirche natürlich. Da haben sie einen aufgehängt am Kreuz. Der soll für andere gestorben sein. Es ist ihr höchster Feiertag. Sie werden nicht müde, an diesem Tag das Tanzen zu verbieten und alles, was Spaß macht. Auch denen, die gar nichts damit zu tun haben. Wenn es nach den Christen geht, dann muss man diesem Tag alle Farben nehmen. Schwarz soll der Karfreitag sein und es wäre am besten, wenn die Sonne gar nicht schiene.
Längst regt sich Widerstand dagegen. Auch unter Christinnen und Christen. Manche sagen: Wir brauchen so einen nicht. Wir brauchen das Kreuz nicht mehr. Wir sollten es jedenfalls nicht immer so in den Mittelpunkt stellen. Es ist doch unzeitgemäß, an so etwas zu glauben. Mit dem Gedanken eines stellvertretenden Opfers kann doch kein moderner Mensch mehr etwas anfangen.
Ich kann mit dem Gedanken des stellvertretenden Opfers etwas anfangen. Denn ich habe den Sarg von Alexej Nawalny gesehen in der kleinen orthodoxen Kirche und ihn darin liegen, auf einmal so klein und stumm im Tod. Es war nicht in einer fernen Zeit, sondern Anfang März 2024. Nicht in Golgatha, sondern in Moskau. Alexej Nawalny hat sich entschieden, allein in seine Heimat zurückzukehren. Niemand hat ihn dazu gezwungen. Er hat sein Leben gegeben für seine Überzeugung, dass die Gewalt der Mächtigen in Russland ein Ende haben muss.
Alexej Nawalny ist nicht Jesus, natürlich nicht. Doch sein Leben und Sterben zeigt, dass alle Unrecht haben, die sagen, das mit der Kreuzigung sei eine alte Geschichte und es gäbe so etwas gar nicht mehr. Es gibt die Passion in dieser Welt, natürlich gibt es sie: Verfolgung durch die Mächtigen, Gefangenschaft und Folter, einen sinnlosen und grausamen Tod. Genau wie bei Jesus, wird in diesem Leiden die Willkür der Mächtigen deutlich, deren Handeln und Rat niemand billigen kann. Und die Ohnmacht der Opfer politischer Gewalt.
Die beiden Frau an Nawalnys Grab waren seine Mutter und seine Schwiegermutter. Und das ist auch genau wie bei Jesus, wo es nur die Frauen waren, die den Mut aufbrachten, nach all den schrecklichen Ereignissen wenigstens noch einmal zu seinem Grab zu gehen. Immer sind es die Frauen.
Mit diesen beiden Frauen stehen wir an einem Grab in Moskau. Und an all den Gräbern, wo eine Hoffnung begraben wird. Der Haufen Blumen und Kerzen, das Kreuz und das Bild, das soll nicht das letzte sein, was von einem Menschen zu sehen ist. Die Frauen sehen das Grab, in das man seinen Leib gelegt hat. Sie halten sich aneinander fest, die beiden. Denn es gibt eine Hoffnung, trotz allem. Noch ist sie dunkel und müde und erschöpft, so, wie man sich fühlt, wenn man jemanden zu Grabe getragen hat. Eine müde Hoffnung liegt darin, wie die Frauen zusammen sind, in einer Gemeinschaft, die nur die Trauer schafft. Aber es wird nicht das letzte Mal sein, dass sie zu diesem Grab gehen.
Gastbeitrag von Kathrin Oxen, Pfarrerin in Berlin